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Der Kampf des Peter Kossen

Solche Schnäppchen ärgern ihn. Peter Kossen hält den bunten Prospekt mit Sonderangeboten in der Hand. Eben hat er ihn aus dem Briefkasten geholt. Fünf Würstchen für 3,99 Euro, Hackfleisch für 4,99 Euro das Kilo. Der Pfarrer schüttelt den Kopf. „Wir schaffen uns edle Grills für bis zu 2000 Euro an. Aber die Wurst darf nur 80 Cent kosten. Der Landwirt kann davon nicht existieren – und die Männer im Schlachthof auch nicht.“ Als er „Das geht nicht!“ hinterherschiebt, klingt das wie Vorwurf und Aufforderung zugleich. Nein, er entlässt niemanden aus der Verantwortung. Für den Pfarrer von Lengerich steht fest: Die Missstände in der deutschen Schlachtindustrie hängen auch zusammen mit der Geiz-ist-geil-Mentalität an der Fleischtheke.

Peter Kossen, der Priester, der seit Jahren das System der Werkverträge anprangert: Ausbeutung, verbrecherische Subunternehmer, Mietwucher. Aber eben auch das Wegschauen der Konsumenten. Peter Kossen, „landesweit bekannter Fabrikantenschreck“, „Sozialpfarrer“ oder „Prälat der sozial Schwachen“. Das sind nur einige Titel, die ihm Medien schon verpasst haben. Peter Kossen, der Priester, dem Unbekannte einmal nachts ein abgezogenes totes Kaninchen vor die Haustür gelegt haben, als „Gruß aus der Fleischbranche“. Tags zuvor hatte er die Arbeitsbedingungen in manchen Schlachthöfen als „modernes Sklaventum“ und die Strukturen der Branche als „mafia-ähnlich“ angeprangert. Das Milieu ist nicht zimperlich. Die Drohung sollte ihn wohl zum Schweigen bringen. Ruhe gegeben hat er dennoch nicht. Fast kein Monat vergeht, ohne dass sich der 50-Jährige zu Wort meldet. Scharfzüngig als Redner auf Kundgebungen und in Diskussionen, unbeugsam mit Pressemitteilungen.

Wir schaffen uns edle Grills an. Aber die Wurst darf nur 80 Cent kosten. Das geht nicht!

Kossens bisher größte Bühne war Günther Jauchs frühere Sonntagabend-Talkshow in der ARD. Fast fünf Millionen Zuschauer konnten ihn 2013 dabei erleben. Er selbst besitzt keinen Fernseher. Wenn er wie jeden Morgen um fünf Uhr den Tag beginnt, reichen ihm Tageszeitung und Deutschlandfunk. Meistens hat er die Fleischbranche im Visier. Sein Vorwurf: Gerade dort nutzen kriminelle Subunternehmer die Not von Werkvertragsarbeitern aus Südosteuropa aus. Einmal nach Deutschland gelockt, sind sie deren Willkür und Gier ausgeliefert und gezwungen, unwürdige Lebens- und Arbeitsbedingungen zu akzeptieren: unbezahlte Überstunden, fehlende Stundennachweise, Mietwucher.

Darin sieht er auch die Schlupflöcher, um den Mindestlohn so zu umgehen, dass am Ende oft nur drei oder vier Euro pro Stunde übrig bleiben. Dabei läuft heute in der deutschen Fleischbranche kaum noch etwas ohne die Arbeitskräfte aus Rumänien, Bulgarien oder Polen. 2018 kam nach Angaben der Bundesanstalt für Arbeit jede und jeder Dritte der 160.000 in Schlachtfabriken beschäftigten Frauen und Männer aus dem Ausland.

Kossens Etagenwohnung liegt im zweiten Stock des Lengericher Pfarrhauses, einer ehemaligen Fabrikantenvilla – ausgerechnet. Der „Fabrikantenschreck in einer Fabrikantenvilla“, er muss selbst darüber schmunzeln. Die deckenhohen Fenster geben den Blick frei über die Stadt am Rand des Teutoburger Waldes. Seit 2017 ist er dort Pfarrer. „Auch hier leben gut 1000 Arbeitsmigranten unter den mehr als 22.000 Einwohnern“, rechnet er vor. Menschen, die er „Geisterarmee“ nennt, weil sie keiner wahrnimmt. Ganz stimmt das nicht. Manche sehen mehr, zum Beispiel ein Kioskbesitzer am Einkaufszentrum bei den Hochhäusern. „Die sind vollgestopft mit Hunderten von Arbeitern mit ihren Familien“, erklärt der Pfarrer. Dem Mann vom Kiosk waren die verweinten Augen, die Kleidung und die spärlich gefüllten Einkaufswagen aufgefallen. Er hatte Kossen darauf angesprochen.

Auch die Erzieherinnen im AWO-Kindergarten haben Kossen „krasse Geschichten“ erzählt. „Von unwürdigen Unterkünften, Kindergeldbetrug oder Zwangsprostitution. Und davon, dass ihnen niemand glauben will.“ Der Pfarrer dagegen weiß, wovon sie sprechen. Bei einem Zimmerbrand hat er kürzlich selbst hinter die Fassade geschaut, als freiwilliger Feuerwehrmann. „Der Rauch kam aus einer der Unterkünfte für Leiharbeiter, vollgestellt mit Stockbetten.“ Die Einsatzkräfte hatten alles schnell unter Kontrolle. „Gott sei Dank war es mittags um 12.“ Der Pfarrer mag sich nicht ausmalen, was nachts in einer so voll belegten Wohnung hätte passieren können.

Was ihn antreibt? „Ein bisschen hat das wohl Tradition in unserer Familie“, sagt er. Dann erzählt er von seinen Vorfahren, landlosen Heuerleuten, und spricht von der frühen Erfahrung, „dass Dinge im Kleinen und im Gro-ßen nicht gerecht laufen“. Aber er hat auch das Beispiel seiner Eltern vor Augen. „Sie haben mir beigebracht, die Schwächeren im Blick zu behalten.“

Dabei ist ihm bewusst, wie wichtig die Schlachtindustrie für den heutigen Wohlstand seiner Heimat Südoldenburg war. Er stammt aus Rechterfeld, einem Dorf bei Visbek. Und er weiß noch gut, wie in der Familie von einem Onkel gesprochen wurde: „Der muss als Schlachter schwer arbeiten“, so hieß es. „Aber der verdient auch gutes Geld.“ Doch diese Zeiten sind vorbei, seit die meis-
ten Unternehmen das Gros ihrer Stammbelegschaften
durch billigere Leiharbeiter ersetzt haben. „Wegwerfmenschen“ nennt Kossen sie manchmal. „Sie werden angemietet, benutzt und nach Verschleiß ausgetauscht.“

Wie weit das gehen kann, davon hat ihm auch sein Bruder berichtet. Florian Kossen ist Arzt in Goldenstedt bei Vechta. Regelmäßig behandelt er Schlachtarbeiter und ihre Frauen und Kinder. Er hat ihm von schweren chronischen Erkrankungen erzählt, von heruntergekommenen Wohnungen, schlechter Ernährung, seelischem und körperlichem Druck. „Frauen Ende 20, die er schon mal auf über 50 Jahre schätzt.“

Im Januar hat Kossen mit Fachleuten und Engagierten den Verein „Aktion Würde und Gerechtigkeit“ gegründet. Der will Wanderarbeitern zum Beispiel dabei helfen, ihre Rechte bei Streitigkeiten mit Arbeitgebern durchzusetzen. Auch wenn Kossen weiß: Eigentlich doktert er damit nur an Symptomen herum. Wichtiger wäre ein echter Wandel des Systems, das Unternehmen weiterhin erlaubt, ihre Produktion nahezu komplett an Werkvertragsfirmen auszulagern.

„Wer daran nichts ändern will, nimmt alles andere mit in Kauf“, sagt er und nennt Mietwucher, Subkulturen, Mafia, Prostitution. Fast gebetsmühlenartig wiederholt er deshalb immer wieder seine Forderung nach Gesetzen, die dem Ganzen einen Riegel vorschieben – wenn auch bisher vergeblich. Bei einigen Politikern jedoch hat er ein gutes Gefühl. Mit NRW-Minister Karl-Josef Laumann (CDU) und Niedersachsens Ministerpräsident Stephan Weil (SPD) ist er im Austausch.

Greifbare Fortschritte sieht er bisher nicht. Seine Schlacht gegen Ausbeutung geht weiter. „Weil ich davon überzeugt bin, dass es besser laufen könnte. Und dass alle etwas davon haben, wenn wir es anders machen.“ Bleibt die Frage: Hat der Pfarrer einer Gemeinde mit 8600 Katholiken und sieben Kirchen nicht genug anderes zu tun? Peter Kossen lächelt. Er kennt diesen Einwand. „Aber der Einsatz für Menschen in Not ist doch ein ureigener Dienst der Kirche!“

Dennoch weiß er: Er zahlt einen Preis dafür. Nicht alle sind begeistert. Ab und zu beschwert sich jemand beim Bischof. Aber er kann nicht anders. „Wir müssen als Kirche
an manchen Stellen profiliert auftreten. Besonders, wenn wir sehen, dass es nicht von selbst besser wird. Weil Hunderttausende Arbeiter aus Rumänien, Polen oder Bulgarien buchstäblich unter die Räder kommen.“ Dafür geht er auch persönliche Risiken ein. Nach einem Vortrag hat ihn mal jemand gewarnt: dass er doch besser ab und zu die Radmuttern seines Autos kontrollieren solle. Ob er manchmal Angst hat? „Schon ein bisschen“, sagt Kossen. „Aber ich halte ich mich damit nicht lange auf.“