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Mehr lachen als weinen

Ulrike Steinberg unterstützt seit 21 Jahren das Hospiz „Zum heiligen Franziskus“ in Recklinghausen. Derzeit kommt die 71-Jährige einmal in der Woche, jeden Mittwochvormittag. Sie hilft dort im Haushalt, geht den Pflegenden zur Hand und besucht die Bewohner – ehrenamtlich.

Es ist schwül an diesem Spätsommervormittag. Die Terrassentür zum Innenhof ist aufgeschoben, die Gardine davor bewegt sich träge im lauen Wind. Elisabeth Korthues (Name geändert) hat in dem Ledersessel Platz genommen, den sie von daheim mitgebracht hat. Ihre Aufmerksamkeit gehört den „Roten Rosen“, einer Serie in der ARD.

Es klopft an der Tür, danach eine kurze Pause. Die Bewohnerin des Hospizes reagiert nicht. Die Lautstärke des Fernsehers schluckt jedes Geräusch. Bis sich die Tür einen Spalt öffnet. „Darf ich reinkommen oder störe ich?“ Ulrike Steinberg schaut herein. Sie spricht unüberhörbar, aber im freundlichen Ton. „Nein, gar nicht“, antwortet Elisabeth Korthues und schaltet den Fernseher aus.

Steinberg zieht den Hocker an den Sessel und setzt sich zur 83-Jährigen. Die Fotos auf dem Regal erzählen von deren Lebensgeschichte, in Schwarz-Weiß und in Farbe. Streng dreinschauende Ehepaare sind zu sehen, lebhafte Familienfotos, lachende Kinder. Dieses Zimmer ist die letzte Station auf ihrem Lebensweg. Sie hat Krebs, nur noch wenig Zeit zu leben. Neben dem Bett stehen ein paar Topfblumen. Und ihr Rollator.

„Wie geht es Ihnen?“ Der Frage von Steinberg folgt eine Pause. Beide schauen durch das große Terrassenfenster auf die Hortensie davor. Die Hitze hat der Pflanze zugesetzt, sie braucht Wasser. Elisabeth Korthues antwortet: „Ich habe keine Schmerzen – aber es ist heiß heute.“ Wieder Stille. Keine erdrückende Stille, sondern eine, in der Gedanken Raum haben. Und doch kommen Tränen. Steinberg rutscht näher an den Sessel heran. Vorsichtig schiebt sie ihre Hand in die Hand der alten Frau. Die schlanken Finger der Bewohnerin reagieren mit sanftem Druck. Einige Minuten hält die innige Begegnung. Wortlos, aber nicht stumm. Diese Nähe braucht kein Gespräch, nur zwei Hände und den gemeinsamen Blick aus dem Fenster.

Diese Nähe braucht kein Gespräch, nur zwei Hände und den gemeinsamen Blick aus dem Fenster.

„Kann ich etwas für Sie tun?“, fragt Steinberg in die Stille. „Vielleicht ein Buch?“ Korthues nickt. Wenig später kommt Steinberg aus der kleinen Hausbibliothek zurück. Die „Poesie der Blumen“ hat sie ausgesucht, einen Bildband mit Gedichten. Sie rutscht mit dem Hocker herum und blättert langsam. Bis zu einer Doppelseite mit Frühlingsblumen. „Hatten Sie auch einen Garten?“

Elisabeth Korthues nickt. Erst ernst. Dann mit einem Lächeln. Sie setzt sich auf. „Aber mit anderen Blumen. Wir hatten Astern. Das war viel Arbeit. Aber schön, wenn alles blühte.“ Ihre Gedanken schweifen ab, sie berichtet von ihrer Kindheit in Siebenbürgen, von dem Haus ihrer Eltern, von den Blumen dort. Und dann erzählt sie vom Krieg. Von russischen Soldaten, die sie aus dem Haus trieben. Von der Wolldecke, die sie gerade noch greifen konnte und über ihr Nachthemd zog. Von dem eisigen Winterwind im Wald, in den sie flohen.

Sie erzählt in einem Fluss, lebhaft, ohne zu stocken. Jetzt schaut sie ihre Besucherin an, beschreibt mit ihren Händen ihre Geschichte, kneift ihre Augen zusammen und runzelt die Stirn. Der Krieg ist bald kein Thema mehr. Das Mittagessen von gestern aber. Und das Handtuch, das eine Pflegerin am Morgen zu einem Schwan gefaltet und aufs Bett gelegt hat. „Ich traue mich gar nicht, meinen Mittagsschlaf zu machen“, sagt sie. „Mit diesem Vogel im Bett.“ Die Frauen lachen.

Sie lachen noch oft. Die Erinnerungen sind zu einem Plausch geworden. „Das war schön“, sagt Steinberg schließlich. „Danke!“ Das Gespräch war anstrengend. Elisabeth Korthues sinkt in ihren Sessel zurück, schließt kurz die Augen. Die Doppelseite mit den Frühlingsblumen auf den Knien.

Steinberg bleibt noch einige Minuten. Schweigend, Hand in Hand. „Ich glaube, ich lasse Sie jetzt mal in Ruhe“, sagt sie. Die alte Dame lächelt. „Ja, es ist heute wirklich schwül.“ Für diese Woche ist keine Wetteränderung vorhergesagt. Ob sie noch einmal kühle Tage erleben wird, weiß sie nicht. Steinberg verabschiedet sich bis zum nächsten Mittwoch. Vielleicht.